Depersonalisation – Die unsichtbare Krankheit
Depersonalisation ist eine für die Außenwelt unsichtbare und unerkennbare Krankheit.
Menschen mit Depersonalisation leben, wohnen, arbeiten mit anderen Menschen zusammen, oftmals jahrzehntelang, ohne dass diese etwas von ihrer Krankheit bemerken. Menschen mit Depersonalisation erscheinen von außen normal, unauffällig. Oft sind sie beruflich erfolgreich, gar in Leitungsfunktionen, leben in stabilen Partnerschaften, haben Kinder, gehen unterschiedlichen Interessen nach, treffen Freunde und Freundinnen.
Im Inneren aber ist Depersonalisation eine Erkrankung, die den Betroffenen kaum je einen Freiraum lässt. Sie beeinflusst Gefühle und Sinneswahrnehmung, daher ist sie allgegenwärtig.
Wer von Depersonalisation betroffen ist, fühlt sich abgespalten von der Welt, empfindet sich selbst und alles um sich herum als unwirklich, muss beständig durch Nebel oder einen Schleier sehen, dumpfe Geräusche identifizieren, eine verschobene Perspektive der Umgebung kognitiv zur richtigen zusammensetzen, tastet sich Schritt für Schritt am Boden durch Watte hindurch.
Menschen mit Depersonalisation verwenden oft die Worte „als ob“ oder „wie“, wenn sie versuchen, anderen ihren Zustand zu beschreiben. „Es ist, als ob ich durch Nebel sehe.“ „Wie wenn meine Ohren mit Watte verstopft wären.“ Die Hilfskonstruktion der Symptombeschreibung mittels eines Vergleichs ist mühsam für die Betroffenen, weil dies nur eine ungenügende Darstellung desselben beinhaltet und bei weitem nicht dem gerecht wird, was die Betroffenen erleben oder fühlen. Andererseits zeigt die Beschreibung mittels eines Vergleichs aber auch an, dass die Betroffenen sich durchaus darüber bewusst sind, dass das, was sie fühlen und erleben, einer inneren Realität entspricht, keiner äußeren.
Allzu oft ist Depersonalisation als eigenständige Erkrankung noch unbekannt. Bis vor wenigen Jahren wurde die Depersonalisationserkrankung noch ausschließlich als Symptom anderer psychischer Erkrankungen (zumeist Angsterkrankungen, Depressionen, PTBS) angesehen. Psychiater und Psychotherapeutinnen widmeten ihr kaum Aufmerksamkeit, wenn sie denn die Symptome überhaupt richtig benennen und einordnen konnten. Menschen mit Depersonalisation wurden in andere Krankheitsschemata hineindiagnostiziert und oftmals hierdurch auch falsch behandelt.
Während die Depersonalisation mittlerweile in internationalen Klassifikationssystemen als eigenständiges Krankheitsbild erscheint, ist sie vielen Ärztinnen und Psychiatern immer noch unbekannt. Betroffene sind daher oft monate- oder sogar jahrelang auf der Suche nach einem Arzt, der ihre Symptomatik richtig einzuordnen weiß und sie dementsprechend beraten kann. Dabei ist die Depersonalisation keine seltene Krankheit.
Kurze Phasen der Depersonalisation erleben die meisten Menschen einmal oder mehrmals in ihrem Leben. Stress, Übermüdung, große Freude oder Berauschung können die Auslöser hierfür sein. Von immer wiederkehrenden Phasen von Depersonalisation bzw. chronisch anhaltender Depersonalisation über einen längeren Zeitraum sind etwa 1-2% der Bevölkerung betroffen, was die Depersonalisation zur dritthäufigsten psychischen Erkrankung macht (nach Depression und Angst). Bei einem Teil der von Depersonalisation Betroffenen liegen andere psychische Erkrankungen zugrunde, bei dem überwiegenden Teil lassen sich allerdings keine anderen psychischen Grunderkrankungen finden. Bei einem Drittel der Betroffenen bleibt die Depersonalisation auch über Jahre oder Jahrzehnte rezidivierend (immer wiederkehrend), bei einem weiteren Drittel geht ein ursprünglich rezidivierender Verlauf in einen dauerhaften Zustand von Depersonalisation über. Bei einem weiteren Drittel ist die Depersonalisation von Beginn an dauerhaft. Das bedeutet, dass zwei Drittel aller von chronischer Depersonalisation Betroffenen unter dauerhaften Depersonalisationssymptomen leiden. Nicht alle Betroffenen können einen konkreten Auslöser für den Beginn ihrer Depersonalisationserkrankung nennen. Oftmals scheint die Depersonalisation aus dem Nichts heraus zu entstehen und sich dann in vielen Fällen auch über Jahre zu chronifizieren, ohne dass für die Betroffenen ein Grund hierfür erkennbar ist. Die Ansicht, dass hinter jeder Depersonalisation sicher eine Angsterkrankung, Depression oder PTBS stecken müsse, ist daher nicht korrekt.
Neuere Studien weisen darauf hin, dass Menschen, die sich einem dauerhaften Stress (welcher Art auch immer) ausgesetzt sehen, eher Phasen von Depersonalisation erleben (vgl. hierzu beispielsweise http://www.report-psychologie.de/news/artikel/depersonalisation-bei-jugendlichen-haeufiger-als-erwartet-2014-12-16/). Möglicherweise ist die Depersonalisation also ein Symptom, das Menschen vor zu viel Stress schützt.
Depersonalisation als dissoziative Erkrankung
Symptomatisch gehört die Depersonalisation zum Formenkreis der dissoziativen Erkrankungen, Erkrankungen, bei denen Zeit-, Raum- sowie Selbstwahrnehmung durcheinander geraten bzw. sogar gänzlich aufgelöst sind. Von Depersonalisation Betroffene haben Schwierigkeiten, sich selbst als ganzheitliches Wesen zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum wahrzunehmen. Sie erleben sich selbst in ihrem Inneren oftmals fragmentiert und haben Schwierigkeiten, die Eindeutigkeit von Zeit und Raum nachzuempfinden. Für Betroffene von Depersonalisation kann sich ein Erlebnis von wenigen Minuten zuvor wie eine Erinnerung aus einer längst vergangenen Zeit anfühlen. Menschen mit Depersonalisation können Schwierigkeiten haben, sich selbst oder Gegenstände in einem Raum zu verorten oder einen Raum in der richtigen Perspektive zu erkennen, weil sie Dreidimensionalität oftmals nicht mehr wahrnehmen können. Betroffene von Depersonalisation sehen sich selbst von oben zu, haben das Empfinden, ein Roboter handle aus ihnen heraus oder können vielleicht auch spüren, welches Gefühl ein Stein hat, der auf dem Boden aufliegt, als ob sie selbst berührt würden, da die Subjekt-Objekt-Trennung für sie aufgehoben ist.
Wie wohl viele Menschen solche Wahrnehmungen und Erlebnisse anstreben und versuchen, sich diese mittels berauschender Substanzen zu verschaffen, für Betroffene von Depersonalisation sind die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen ein beständiger Albtraum, der niemals aufhört.
Depersonalisation wird häufig auch als philosophische Erkrankung bezeichnet (vgl. hierzu beispielsweise: http://www.deutschlandfunkkultur.de/eine-wand-zur-aussenwelt.1067.de.html?dram:article_id=242124). Denn die Depersonalisation macht so klar wie keine andere Erkrankung, dass unsere Wahrnehmung von dem, was wir für unser Selbst und die Realität um uns herum halten, nur ein Konstrukt, eine beständige Leistung unseres Gehirns ist. Und sie macht auch klar, dass die „normale Wahrnehmung“ lediglich EINE Form einer möglichen Wahrnehmung darstellt, die Realität könnte also auch ganz anders sein. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Menschen mit Depersonalisation sehr viel darüber nachdenken, wie die Wirklichkeit beschaffen ist und welche Rolle und Platz sie selbst darin haben.
Anpassungsleistungen von Menschen mit Depersonalisation
Menschen mit Depersonalisation erbringen jeden Tag erstaunliche Anpassungsleistungen, um in einer Welt, deren Wahrnehmung und Empfinden sie nicht mehr teilen, bestehen zu können. Doch diese Anpassungsleistungen haben auch negative Auswirkungen auf die Betroffenen, da sie ihnen auf Dauer eine große und beständige Anstrengung abverlangen. So leiden Menschen mit Depersonalisation nicht nur unter den Symptomen der Erkrankung selbst, sondern auch unter weiteren Beschwerden, die erst durch die Depersonalisation entstehen und die hier als Begleiterscheinungen oder Ko-Symptome der Erkrankung bezeichnet werden sollen. Diese Ko-Symptome unterscheiden sich natürlich von betroffener zu betroffener Person und können hier nicht einmal ansatzweise vollständig wiedergegeben werden:
Aufgrund ihrer meist als dumpf oder nebelig beschriebenen Wahrnehmung müssen sich Menschen mit Depersonalisation oftmals sehr stark konzentrieren, um einem Gespräch folgen oder kontinuierlich an einer Sache arbeiten zu können. Die ständige Anspannung und übermäßige Konzentration kann zu Kopfschmerzen, chronischer Müdigkeit oder auch Unachtsamkeit führen. In Zeiten sehr starker Depersonalisation können Betroffene manchmal überhaupt nicht mehr einer geregelten Tätigkeit nachgehen.
Durch das Gefühl der Betroffenen, alles ereigne sich automatisch, wie ein Roboter, der an ihrer Stelle handelte, kann die Interaktion mit anderen Menschen erschwert sein. Betroffene fühlen sich oftmals leblos und haben das Gefühl, anderen nur Theater vorzuspielen, weil sie sich nicht mit ihrem Selbst in das Geschehen involviert fühlen. Die Interaktion mit anderen ist aber auch durch die eingeschränkte Wahrnehmung erschwert. Daher ziehen sich viele Menschen mit Depersonalisation aus dem sozialen Geschehen zurück. In Zeiten schwerer Depersonalisation kann es vorkommen, dass Betroffene überhaupt keinen Kontakt mehr mit anderen haben.
Aufgrund der Auflösung der Dreidimensionalität des Raumes können Menschen mit Depersonalisation Schwierigkeiten haben, sich selbst, andere Menschen oder auch Gegenstände richtig im Raum zu verorten. Dies kann zu Gangunsicherheit, ständigem Anstoßen oder Greifen ins Leere führen. In Zeiten schwerer Depersonalisation sogar zu Stürzen oder Unfällen.
Durch die Auflösung der Kontinuität der Zeit können sich Menschen mit Depersonalisation Dinge oftmals schlechter merken oder sich an Vergangenes nur schlecht erinnern. Dies führt dazu, dass sich die Betroffenen Lernstoff mehrmals aneignen müssen oder vergangene Erlebnisse für sie nicht mehr abrufbar sind. Menschen mit Depersonalisation vermeiden daher häufig das belanglose Plaudern über Vergangenes, aus Angst davor, andere könnten bemerken, dass sie sich das gemeinsam Erlebte nur lückenhaft merken konnten. In Zeiten schwerer Depersonalisation kann das Erinnerungsvermögen so stark eingeschränkt sein, dass Betroffene das Gefühl haben, über gar keine Erinnerungen mehr zu verfügen.
Nicht zuletzt macht der Zustand der Depersonalisation den Betroffenen immer wieder auch furchtbare Angst. Menschen mit Depersonalisation können das Gefühl haben, verrückt zu werden, haben Angst davor, Stimmen zu hören oder fürchten, lebenslang in der Psychiatrie zu landen. Andere klagen über seltsame Körperwahrnehmungen wie beständige Würgegefühle im Hals oder das Empfinden, gänzlich taub oder erblindet zu sein. Für manche Betroffenen ist die Angst, die die Depersonalisation auslöst, schlimmer als das Symptom an sich.
Behandlung der Depersonalisationserkrankung
Eine sichere Behandlungsmethode für die Depersonalisationserkrankung gibt es noch nicht. Auch unter den Psychopharmaka gibt es keine Medikamente, die speziell auf die Depersonalisationserkrankung zugeschnitten sind. In Einzelfällen haben Betroffenen schon Medikamente, die eigentlich für andere Erkrankungen zugelassen sind, geholfen (Off-Label-Use). Psychotherapie kann Menschen mit Depersonalisation unterstützen, sich selbst und ihre Erkrankung besser zu verstehen, um letzten Endes auch das Symptom zu überwinden. Die Kontaktaufnahme mit einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten ist daher bei Betroffenheit von Depersonalisation sehr angeraten. Wichtig ist es allerdings, hier eine Person zu finden, der das Symptom der Depersonalisation nicht vollkommen unbekannt ist.
Als hilfreich im persönlichen Umgang mit der Erkrankung haben sich auch diverse Methoden der Selbstfürsorge und Eigenbehandlung erwiesen. Auf diesen fokussiert diese Website. Die Website nimmt daher alle Wahrnehmungen und Gefühle von Menschen mit Depersonalisation sehr ernst und versucht, diesbezüglich mögliche Methoden und Ansätze vorzustellen.